Yazın eleştirmeni "Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki sizlere ömür.
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Trauerfeier für Reich-Ranicki Wo Literatur ist, wird seine Stimme hörbar bleiben
26.09.2013 ·
Seine Liebe galt der Musik, der Literatur, aber immer auch
dem Menschen: Auf dem Frankfurter Hauptfriedhof nimmt die literarische
Welt Abschied von Marcel Reich-Ranicki.
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Die empfindsame Seite des Kritikers
An Polizeiwagen herrschte in Frankfurt kein Mangel. Bundespräsident Joachim Gauck war gekommen, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier dachte über das eigene Bundesland hinaus, als er sagte, ganz Deutschland trauere um eine außergewöhnliche Persönlichkeit, Petra Roth dankte für manchen Rat in kulturpolitisch schweren Zeiten, und Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann würdigte Reich-Ranicki als einen Menschen, der die Abgründe wie die Höhen des 20. Jahrhunderts durchmessen habe wie wenige sonst. Zu Klängen war von Bach, Schumann und Puccini war an diesem Nachmittag immer wieder auch von der Musik die Rede. Zusammen mit der Literatur bildete sie, wie seien Freunde wussten, jenes legendäre, oft zitierte „portative Vaterland“, das er, der 1920 in Polen geboren wurde, im Berlin der dreißiger Jahre aufwuchs und von den Nazis 1938 deportiert wurde, sich in der Literatur inszenieren musste, wie Rachel Salamander sagte. Rüdiger Volhard, einer der engsten Freunde Reich-Ranickis, wies daraufhin, dass die geradezu besessene Liebe des oft polternden Kritikers aber nicht nur der Literatur und der Musik, sondern allen schlechten Erfahrungen zum Trotz immer auch den Menschen gegolten habe. Salomon Korn, den eine fast dreißigjährige Freundschaft mit Reich-Ranicki verband, erinnerte in seiner berührenden Ansprache an die Schreckenszeit, die Marcel Reich-Ranicki und seine vor zwei Jahren verstorbene Ehefrau Tosia nach der Deportation zuerst im Warschauer Getto und danach im stets gefährdeten Kellerversteck des polnischen Bauern Bolek Gawein verbringen mussten. Die liebevolle, empfindsame Seite, die Korn und seine Frau Maruscha so oft im kleinsten Kreis an Reich-Ranicki beobachtet hätten, habe er in der Öffentlichkeit kaum einmal gezeigt: „Um zu überleben, hatte er eine Palisade um sein Innerstes errichtet – und diesen Überlebensschutzwall nie wieder gänzlich abgebaut.“Held des Vergebens
Dass Marcel Reich-Ranicki dennoch viele Menschen nicht nur erreicht, belehrt und unterhalten, sondern auch berührt hat, machte Thomas Gottschalk deutlich. Der Entertainer würdigte den Fernsehunterhalter Reich-Ranicki und bekannte, dass er in der 1999 erschienen Autobiographie „Mein Leben“ nicht nur seine eigene Jugend im Bild des Berliner Gymnasiasten Marcel Reich wiedergefunden habe, sondern in dem gereiften Überlebenden der Judenverfolgung einen Helden des Vergebens, aber Gott sei dank eben nicht des Vergessens“ entdeckt habe. In den Internetforen, in denen sonst vor allem gelästert und genörgelt werde, gehe es nun oft geradezu nachdenklich und feierlich zu: „Dieser streitbare Mann hat erreicht, dass in diesem streitlustigen Medium kurzfristig Friede einzog.“Marcel Reich-Ranicki ist tot. Aber seien Stimme werde auch in Zukunft überall dort zu hören sein, wo Literatur sei, sagte Frank Schirrmacher. Schüler im klassischen Sinne habe sein Vorgänger als Literaturchef nie gehabt, aber er habe in Rachel Salamander, die künftig als Juryvorsitzende den Marcel-Reich-Ranicki-Preis der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vergeben wird, eine Repräsentantin seines Geistes. Dass er sich von denjenigen, die sich angemaßt hatten, Deutschland verkörpern zu wollen, die Liebe zur deutschen Kultur nie hat nehmen lassen, das ist wohl Marcel Reich-Ranickis größter Triumph über den Tod hinaus.
Trauerfeier für Marcel Reich-Ranicki „Unser Land verdankt ihm viel“
26.09.2013 ·
Auf dem Frankfurter Hauptfriedhof kamen zahlreiche Gäste um
Abschied von Marcel Reich-Ranicki zu nehmen. In ihren Reden gedachten
sie dem berühmten Kritiker, der sein Leben der Literatur widmete.
Von
Florian Balke, Frankfurt
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© Fricke, Helmut
Nach der Trauerfeier: Andrew
Ranicki, Sohn des Toten (links), und seine Tochter Carla (hinten links)
zusammen mit Bundes präsident Joachim Gauck, dem hessischen
Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) und dem Frankfurter
Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) auf dem Hauptfriedhof.Zahlreiche Gäste haben am
Donnerstagabend Abschied von Marcel Reich-Ranicki genommen. In der
Trauerhalle des Hauptfriedhofs erinnerten sie an den Literaturkritiker,
der am Mittwoch vergangener Woche in Frankfurt gestorben war. Auch
Bundespräsident Joachim Gauck war nach Frankfurt gekommen. Er verneigte
sich vor dem Sarg.Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier
(CDU) sagte, Deutschland trauere um eine Persönlichkeit von
außergewöhnlichem Rang. „Unser Land verdankt ihm unendlich viel.“ Wie
Bouffier erinnerte Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD)
daran, dass Reich-Ranicki als Jude im besetzten Polen deutscher
Verfolgung entkam, nur um sein Leben der deutschen Literatur zu widmen.
„Die Sprache war seine Heimat, wie Frankfurt ihm und seiner wunderbaren
Frau Tosia zu einem Zuhause geworden ist.“ Feldmann wies darauf hin,
dass die Stadt Reich-Ranicki im Jahr 2002 den Goethepreis zuerkannt
habe. „Sie tat das in tiefer Dankbarkeit und im Bewusstsein, dass die
Auszeichnung einem Menschen galt, dem die Arbeit am Leben der Bücher
eine Arbeit an der Freiheit und Gerechtigkeit der Republik war.“
Feldmanns Amtsvorgängerin Petra Roth (CDU) sagte, Reich-Ranicki habe als
Kritiker eine ganze Generation von Lesern geprägt und sei in den Jahren
nach der Veröffentlichung seiner Autobiographie „Mein Leben“ Millionen
von Menschen zu einem moralischen Vorbild geworden. „Er wirkt weit über
unsere Zeit hinaus.“ Sie erinnerte an den „unschätzbaren Ratgeber“, den
die Stadt verloren habe. „Frankfurt hätte den Rang, den es als
Kulturstadt hat, nicht ohne Marcel Reich-Ranicki.“ Strategisch, bedacht,
vermittelnd – so schilderte Roth den Kritiker als Kulturpolitiker
hinter den Kulissen.
Im Privaten war er ein Anderer
„Der Punkt
ist ja, er hätte auch diese Veranstaltung rezensiert“, sagte Frank
Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Stets
habe Reich-Ranicki die von ihm besuchten Beerdigungen anschließend einer
Bewertung unterzogen und dabei auf das Vorhandensein oder das Fehlen
von Polizei geachtet, an der sich die Bedeutung der Trauergäste habe
erkennen lassen. Angesichts der Polizeiwagen vor dem Hauptfriedhof wäre
er mit seiner eigenen Trauerfeier wohl zufrieden gewesen. „Wir werden
seine Stimme hören bei allen Büchern, die wir lesen.“ Bouffier hatte zuvor gesagt, Hessen trauere um
einen Mitbürger und hinzugefügt: „Hier bei uns war er daheim.“ Dem
widersprach Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden und
Vorsteher der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt. „Marcel-Reich-Ranicki hat
sich nirgendwo beheimatet gefühlt.“ Er erinnerte an den Freund, der
sich privat anders gezeigt habe als in der Öffentlichkeit, „liebevoll,
empfindsam, gefühlsbetont, herzlich“. Es seien Gefühle gewesen, von
denen er im Warschauer Ghetto und im Versteck nach seiner Flucht gelernt
habe, dass sie höchste Gefahr nach sich ziehen könnten. Die Strenge und
Unerbittlichkeit des Kritikers ließen sich auf diese existentielle
Erfahrung zurückführen. „Um zu überleben, hatte er eine Palisade um sein
Innerstes errichtet.“
Trauerrede zum Tod von Marcel Reich-Ranicki Adieu, Marcel
26.09.2013 ·
An einen, der trotz aller durchlittenen Qualen im Inneren
ungebrochen blieb: Salomon Korn nimmt in seiner Trauerrede Abschied von
dem Freund und Kritiker.
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Salomon Korn an der Seite seiner Frau Maruscha Rawicki und Thomas Gottschalks bei der Trauerfeier
„Nur wissen möcht ich: wenn wir sterben,
Wohin dann unsere Seele geht?
Wo ist das Feuer, das erloschen?
Wo ist der Wind, der schon verweht?“
(Heinrich Heine)
Unsere Freundschaft begann im September 1986 mit
einer Wette während eines Abendessens im Hause Bubis. Es war schon kühn
von mir, in Gegenwart von Marcel Reich-Ranicki an einer scheinbar
passenden Stelle Heinrich Heine zu zitieren. Prompt korrigierte er ein
Wort des von mir vorgetragenen Zitates. Nachdem ich auf der Richtigkeit
meines Wortlautes bestand, wetteten wir um den Preis eines Abendessens,
wer von uns beiden korrekt zitiert hatte. Die von mir verlorene Wette
wurde unerwartet Grundstein einer siebenundzwanzig Jahre währenden
Freundschaft. Von
da an trafen wir uns zu viert zu Lesungen, Konzerten, Theaterbesuchen,
Abendessen oder verbrachten gemeinsame Tage am Zürichsee, in Prag und
anderswo. Stets freute er sich und antwortete geduldig, wenn er im
Ausland von deutschen Touristen erkannt und angesprochen wurde. Obwohl er in jenen Jahren zunehmend stärker in die
Öffentlichkeit trat, große Popularität gewann und mit dem von ihm
geleiteten Literarischen Quartett schließlich zum Fernsehstar und
Literaturpapst aufstieg, legte er weiterhin Wert auf Zusammenkünfte in
kleinem Kreis. Die denkwürdigsten Stunden verbrachten wir zu viert in
der Wohnung von Marcel und Tosia. Dort zeigte der nach außen hin so
strenge Literaturkritiker ungewohnt menschliche Züge – vor allem
gegenüber seiner Frau. Marcel vergaß dabei immer wieder, dass Maruscha –
meine Frau – fließend polnisch spricht und seine an Tosia in polnischer
Sprache gerichteten zärtlichen Worte und Kosenamen verstand. Bei solchen
Gelegenheiten offenbarte sich ein Marcel Reich-Ranicki, wie er der
Öffentlichkeit verborgen geblieben war: liebevoll, empfindsam,
gefühlsbetont, herzlich. Die Jahre im Krieg, im Warschauer Ghetto, im
stets gefährdeten Versteck des polnischen Bauern Bolek Gawin hatten ihn
gelehrt, dass solche Gefühle in höchster Gefahr tödlich sein konnten. Um
zu überleben, hatte er eine Palisade um sein Innerstes, um seine
Empfindungen errichtet – und diesen Überlebensschutzwall nie wieder
gänzlich abgebaut. Vermutlich entsprang die Quelle seiner strengen,
manchmal unerbittlich erscheinenden Urteile und Verrisse in
literarischen Fragen unbewusst den existenziellen Erfahrungen jener
Jahre zwischen Leben und Tod: nie wieder Schwäche, nie wieder
Machtlosigkeit zeigen. Die Erfahrung lehrt: Es gibt Überlebende der
nationalsozialistischen Judenvernichtung, die an ihren Erlebnissen
zerbrochen sind; der Hölle entronnen, konnten sie in dieser Welt nie
wieder ganz heimisch werden. Warum ein Teil der Überlebenden seelisch
gelähmt durchs Leben geht, ein anderer Teil, nicht minder gezeichnet,
dennoch eine davon gänzlich abweichende Einstellung zeigt, wird wohl nie
abschließend zu beantworten sein. Was immer auch der Preis dafür gewesen sein mag,
was immer auch die Gründe dafür gewesen sein mögen: Marcel Reich-Ranicki
zählt zu jenen, die trotz aller durchlittenen Qualen und Todesängste,
trotz seelischer Narben und Traumata, nicht gebrochen waren – vermutlich
weil Tosia in einer der schwersten Stunden seines Lebens in sein Leben
trat und sich beide in Zeiten höchster Not gegenseitig gestützt haben. Marcel Reich-Ranicki hat sich nirgendwo beheimatet
gefühlt – außer im „portativen Vaterland“ der Literatur und Musik.
Frankfurt am Main war ihm und Tosia zwar nicht Heimat, wohl aber Zuhause
geworden. Der Gedanke, dieses Zuhause in jenem Land gefunden zu haben,
aus dem die Mörder seiner Familie und derjenigen seiner Frau kamen, war
stets gegenwärtig: ihren Hochzeitstag verbrachten Marcel und Tosia immer
außerhalb Deutschlands. Doch mit dem Tod von Tosia im April 2011 hatte
Marcel Reich-Ranicki – der Heimatlose – auch sein Zuhause verloren. Als ich mich kurz vor seinem Tod an seinem
Krankenbett, in dem er unruhig atmend im Dämmerzustand lag, von ihm
verabschiedete, öffnete er unverhofft noch einmal die Augen, sah mich an
und – er, der nicht an Gott glaubte – hauchte kaum hörbar „Adieu“.Wohin dann unsere Seele geht?
Wo ist das Feuer, das erloschen?
Wo ist der Wind, der schon verweht?“
(Heinrich Heine)
Adieu Marcel und danke für deine Freundschaft.
K: FAZ