28 Haziran 2013 Cuma

Tolstois Albtraum


Viktor Pelewin: Tolstois Albtraum

Der Mönch mit der kugelsicheren Kutte


21.06.2013 ·  Leo Tolstoi trifft auf James Bond: In seinem neuen Roman lässt der Autor Viktor Pelewin den russischen Dichterfürsten auf wundersame Weise als Geheimagenten auferstehen.

Von Kerstin Holm

Russlands Handelsmarke mit dem größten Entwicklungspotential ist die Literatur. Das wusste schon Wladimir Sorokin, der Meister der sprechenden physiologischen Deformation, als er in seinem Roman „Himmelblauer Speck“ grotesk ausmalte, wie einst staatliche Labors Präparate aus geklonten klassischen Schriftstellern herstellen, die den Herrscher zum Supermann aufbrezeln sollen. Sorokins großer Antipode Viktor Pelewin entlarvt umgekehrt noch die brutalsten Wirklichkeiten als trügerische Mayaschleier, wie sie das Fangnetz unserer Wünsche, Ängste und Erwartungen webt, das im medialen Zeitalter den Menschen in immer dickeren Schichten einhüllt und den Hunger nach Empfindungen mit Industrieware stillt. Auch Pelewin schildert in seinem zu Tolstois hundertstem Todestag erschienenen Roman „t“, dessen Titel das Zeichen für „gestorben“ zweifellos mitmeint, wie viel Rendite aus der nationalen Markenware noch herauszuholen ist fürs Wirtschaftswachstum und die Versorgung des Publikums mit Ballaststoffen. Während dieses Werk soeben unter dem Titel „Tolstois Alptraum“ bei Luchterhand auf Deutsch herauskam, publizierte der um die Qualität der Warenmarke Literatur hochverdiente Pelewin im Moskauer Mammutverlag Eksmo schon sein übernächstes Buch, „BatmanApollo“, worin die Manager von Macht und Mammon als dunkle Götterkaste vorgeführt werden.

Eine polemische Antwort auf James Bond

In „Tolstois Alptraum“ imaginiert Pelewin, wie ein Großverlag, der sich das Markenzeichen des Tolstoi-Gutes Jasnaja Poljana angesteckt hat und sein Erfolgslesefutter kostensparend von Genrespezialisten im Team zusammenstricken lässt und so den unsterblichen Klassiker zwingt, vor den Buchkonsumenten wieder zu aufzutreten, jedoch nicht mehr als Sozialkritiker und Moralist, weil dafür keine Nachfrage besteht, sondern als Actionheld, Pop-Philosoph und gut aussehender Adliger, wie ihn die Frauen lieben. Die Geschichte von Graf T., wie die Figur sich griffig-geheimnisvoll nennt, liest sich wie eine polemisch kalauernde Antwort auf die Kultkinofilme über das Versklavungsnetzwerk „Matrix“ und James Bond. Tolstois Doktrin vom zivilen Ungehorsam gegen die angemaßte Autorität von Staat und Kirche mutiert bei T. zur unschlagbaren Selbstverteidigungstechnik namens „gewaltloser Widerstand“, kurz GEWI. Dafür wird er vom Gut Jasnaja Poljana, wie 007 vom britischen Geheimdienstlabor, mit den neuesten Wunderwaffen ausgestattet, die freilich volkstümlich russisch getarnt sind.

Hyperrealismus und schnelle Schnitte

Mit einer Kreissäge im Strohhut, tödlichen Wurfmessern, pillengroßen Bomben muss der Held, dem schießwütige Geheimdienstler und Geistliche nach dem Leben trachten, die vervielfältigten Spielfiguren des Romans in Scharen niedermähen. Völlig zu Recht stellt er sich daher bei einer Geheimgesellschaft mit der Formel vor: „Mein Name ist T. - Graf T“. Die hyperrealistisch-irrealen Schauplätze versetzen in computergenerierte Filmbilder mit raschen Schnitten. Die Eingangsszene zeigt T., hochgewachsen und schwarzbärtig wie Tolstoi in seinen besten Jahren, als Mönch kostümiert, in einem Zugabteil sitzend, einem auf ihn angesetzten Oberst der zaristischen Geheimpolizei, der ebenfalls inkognito reist, gegenüber.

Polytheismusunterricht auf der Galeere

Während draußen ein Fantasie-Jasnaja Poljana als Marmormärchenschloss vorübergleitet mit einem pflügenden Tolstoidouble davor, wird der Dialog der zwei Passagiere immer aggressiver. Plötzlich verdunkelt ein Tunnel - den es auf der Strecke nirgends gibt - den Zug, danach liegt der Polizeioberst am Boden, während der falsche Mönch aus dem Fenster springt. Just in dem Moment, da bewaffnete Beamte das Abteil stürmen, taucht er in einem Fluss unter. Der ultrageistesgegenwärtige T., der als nächstes eine Galeere ersteigt, wo ihm eine vornehme Fürstin Polytheismusunterricht gibt, bevor der schon wieder putzmuntere Polizeioberst sie und ihre ganze Mannschaft umbringen lässt, hat zugleich, fast wie der greise Tolstoi, kein Gedächtnis mehr und keine Biographie.

Die merkwürdige Schönheit des Todes von Tolstoi

Das Einzige, woran er sich erinnert, ist, dass er nach Optina Pustyn will, ein berühmtes Kloster, das der von der Kirche ex-kommunizierte Tolstoi kurz vor seinem Tod tatsächlich aufsuchte, freilich ohne es zu betreten. Doch Pelewins T. fragt nur jeden, was und wo Optina Pustyn sei, bekommt aber nur nebulöse Antworten. Am Ende wird das sinnentleerte Wort zum Namen vom Sitz Gottes beziehungsweise des Nirvana, wohin der Held dem Weltenstrudel entkommt. Pelewin hat gestanden, die merkwürdige Schönheit des Todes von Tolstoi, der von zu Hause auszog in die Ewigkeit, habe ihn schon immer fasziniert. Seinen untoten T., der sich mit Pferden unterhalten kann, lässt er seitenlange Dispute mit dem mephistophelischen Geist führen, der ihn aus dem Nichtsein herauszog.

Eine globale Antigötterunterwelt

Der Dämon, der in immer neuen Gestalten erscheint, verrät, welche Sponsoren oder Autoren hinter welcher Sujetwendung stecken. Er behauptet, Schriftsteller müssten für ihren Schöpferhochmut dadurch büßen, dass sie selbst das Schicksal einer Romanfigur erleiden, dass die Aufmerksamkeit für die Dinge diese überhaupt erschaffe, dass die Wirtschaftskrise die Welt bald in ein klerikales Kriegsspiel verwandeln müsse. Dass dem Leser manchmal der Verstand ins Schlingern kommt, ist gewollt - als Kontrast zum kombinatorischen Tiefenblick von T.   Pelewins neuester Vampirroman „BatmanApollo“, derzeit der Verkaufsschlager im russischen Buchhandel, schließt insofern an „t“ an, als aus dem Dämon eine globale Antigötterunterwelt geworden ist, ein Parasitenolymp, der sich vom Ambrosia eines Geldextrakts ernährt. Pelewin entwickelte die Idee schon 2006 in seinem Buch „Empire V“ als literarischen Kommentar zu Putins Idee von Russland als Rohstoffimperium.

Wo ist das konkurrenzfähige Simulakrum?

Die Vampirgötter residieren in der Sieben-Sterne-Unterwelt, in die man durch einen Geheimschacht unweit der Millionärsmeile Rubljowka gelangt. Politstrategen und Medienmanager holen sich hier Rat, ob die Ernte des „Extrakts menschlichen Leids“, wie die Universaldroge Geld unter Wissenden heißt, beziehungsweise die „Summe der kosmischen Lüge“, wie der Held sagt, besser durch linke Slogans sichert oder durch ein paar Protestdemos. Pelewins Jungvampir aber erfährt schon bei der Ausbildung, dass den Untoten ihr nationaler Charme erhalten bleibt. Unterwegs kommt er fast um, weil die russische Untertage-Technik wichtige Ersatzteile einspart, und fliegt fast aus dem Seminar, weil er - politisch untragbar inkorrekt - Vampirzähne wahrheitsgemäß als „Hauer“ bezeichnet. Denn um erfolgreich Menschen zu managen, ist zweierlei nötig: ein von Wahrheit zuverlässig gereinigter Diskurs und die Pseudofreuden des Glamours. Leider scheint die russische Elite unfähig, ein konkurrenzfähiges Simulakrum hervorzubringen und diskreditiert zuverlässig alle Diskurse, wie ein Chefvampir mit seinen überirdischen Adepten ins Gericht geht. Dabei weiß er insgeheim, dass die - entlarvende, also aufklärerische - Mission des russischen Staates gerade darin liegt, das Leben seiner Untertanen so leidvoll wie möglich zu machen. (faz)

Viktor Pelewin: „Tolstois Albtraum“. Roman. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Luchterhand Literaturverlag, München 2013. 448 S., geb., 21,99 €.