12 Haziran 2013 Çarşamba

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Schriftsteller Teju Cole "Die Situation in den USA ist abscheulich"

Gerade hat der Amerikaner Teju Cole den Internationalen Literaturpreis in Berlin erhalten. Im Interview spricht er über die USA und seinen Erfolgsroman "Open City".

Der Schriftsteller Teju Cole wurde 1975 in den USA geboren, wuchs jedoch in Nigeria auf.

ZEIT ONLINE: Mister Cole, der Erzähler Ihres Romans Open City, Julius, geht einmal zu einem Konzert von Mahlers 9. Sinfonie in die Carnegie Hall. Er ist schwarz und bemerkt, dass fast alle um ihn herum weiß sind. Es erinnert ihn daran, wie "getrennt unsere Leben immer noch sind". Gibt es selbst in den USA keinen Fortschritt, was das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß angeht?

Teju Cole: Bei dieser Frage denke ich immer als Erstes daran, wie absurd es ist, dass es dieses Problem überhaupt gibt. Es ist dumm zu glauben, das Menschen mit hellerer Haut besser sind als mit dunklerer Haut. Natürlich gibt es einen großen Fortschritt, aber wir haben diesen Fortschritt von diesem Punkt extremer Blödheit aus gemacht. Und ich denke, wir befinden uns noch nicht an einem Punkt, der okay ist. Das Leben ist immer noch sehr unterschiedlich, sehr von Vorurteilen geprägt. Die Elite in den USA ist überwiegend weiß und die Schwarzen sind zum großen Teil benachteiligt. Das ist die Realität. Es geht nicht darum, zu sagen, wir hätten keinen Fortschritt gemacht, sondern zu sagen, dass die ganze Situation abscheulich ist.

ZEIT ONLINE: Ihr Romanerzähler Julius ist ein Flaneur, er wandert ziellos durch Manhattan und sieht Dinge, die andere übersehen. Weshalb haben Sie sich für diese Art der Wahrnehmung interessiert und welche Bedeutung haben diese Dinge für Sie?

Cole: Grundsätzlich ist Open City aus dem Bedürfnis heraus entstanden, über Dinge zu schreiben, die ignoriert werden. Es gibt eine konventionelle Art, über New York zu schreiben als einen Ort, der sich selbst erfindet, einen Ort mit großem Optimismus, von Unternehmen, von Kunst und Unterhaltung. Und selbst nach der Katastrophe von 9/11 ist es Teil der Mythologie, dass New York unverwüstlich ist und schnell wieder auf die Beine kommt. Ich wollte eine gegenläufige Geschichte erzählen. Und sagen, es gibt ein anderes New York, das in diesem ersten New York enthalten ist. Und dieses andere New York hat zu tun mit Geschichte.

ZEIT ONLINE: Das führt zu einem anderen wichtigen Thema Ihres Buches, der Erinnerung. Warum sollten wir uns erinnern, zum Beispiel an die Versklavung der Afrikaner in den USA oder die Ermordung der indianischen Urbevölkerung?

Cole: Das ist eine gut Frage. Man erinnert sich, weil man sich erinnern muss. Man erinnert sich, weil alle anderen vergessen. Niemand weiß, warum wir hier sind, in dieser Welt. Einige suchen nach der Antwort, indem sie herausfinden, was vorher war.

ZEIT ONLINE: Jetzt haben Sie in Berlin den mit 25.000 Euro dotierten Internationalen Literaturpreis erhalten. Auch diese Stadt hat viel Geschichte.

Cole: Ja, man kann zwar in Berlin umherlaufen, ohne den historischen Raum wahrzunehmen: Es ist eine nette Stadt mit vielen Künstlern, netten Restaurants. Wenn ich jedoch nach Berlin komme, ist es die Stadt von Einstein, von Walter Benjamin und es ist gleichzeitig die Stadt Hitlers, der Nazis und der Russen, die sie erobern, es ist die Stadt der Mauer, die Stadt, die versucht, sich nach dem Ende der Teilung wieder aufzubauen, die versucht, mit der dunklen Seite ihrer Geschichte fertig zu werden.

ZEIT ONLINE: Was ist mit der Gegenwart?

Cole: Warum sollte es nur die Gegenwart sein? Um den Sinn meiner Erfahrungen zu verstehen und die Frage zu beantworten, warum ich hier bin, möchte ich die Stadt auch aus der Tiefe der Zeit begreifen. Warum sind die Leute von der Vergangenheit besessen? Warum geht man auf den Fernsehturm am Alexanderplatz? Um einen Überblick zu bekommen, wo man ist.

ZEIT ONLINE: Open City ist oft mit den Büchern von W.G. Sebald verglichen worden. Aber ein wichtiger Unterschied zu Sebald ist, dass Ihr Erzähler nicht unschuldig ist. Am Ende des Buches wirft ihm eine Frau vor, sie vergewaltigt zu haben, als beide jung waren. Warum haben Sie sich für einen ambivalenten Charakter entschieden?

Cole: Es gibt die Tradition des verletzten Erzählers, des leidenden Erzählers. Sebalds verletzter Erzähler gehört dazu. Ich bewundere Sebald sehr. Aber mein Verständnis von dieser Tradition ist die Erforschung der Frage nach der Verletztheit und Unschuld. Dazu möchte ich etwas beisteuern. Diese Person, dessen Stimme wir lesen, die uns etwas über die Welt erzählt, die ist nicht unschuldig. Es ist genauso wie mit der Stadt, in der wir gerade sind, in der wir einen schönen Sommertag auf dem Rasen im Park genießen. Das ist nicht unschuldig, das ist nur möglich aufgrund des Leids anderer. Das ist mein Verständnis von Realismus.

ZEIT ONLINE: Können Sie diesen Realismus anhand Open City nochmal konkret erklären?

Cole: Wenn Sie ein Buch haben, in dem eine Frau vergewaltigt wird, fragt niemand: Warum hast du eine vergewaltigte Frau in deinem Buch? Wir wissen, dass so etwa passiert. Aber wenn Sie ein Buch haben, in dem der Erzähler ein Vergewaltiger ist, fragt jeder: Warum? Solch ein interessanter Typ, so ein netter Typ. Aber interessante Typen vergewaltigen, nette Typen vergewaltigen.

ZEIT ONLINE: Und nette Typen erinnern sich an Dinge, um sich nicht an andere zu erinnern.

Cole: Genau. Julius ist jemand, der sich intensiv und detailliert erinnert, aber in einem strategischen Sinn. Er weigert sich nicht, mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Er hat eine manische Beziehung zu manchen Aspekten der Vergangenheit. Aber er will nicht an seine Mutter denken. Er denkt lieber an seine Großmutter. Es ist eine Frage der Distanz.

ZEIT ONLINE: Open City ist ein melancholisches Buch, weil Julius ein melancholischer Mensch ist. Woher kommt diese Melancholie? Was ist ihre Bedeutung?

Cole: Eine Ursache ist, dass ich die Welt grundsätzlich melancholisch wahrgenommen habe und in einem gewissen Sinn das immer noch so ist. Einige Jahre bevor Open City entstanden ist, hat mich diese Melancholie gelähmt. Ich war depressiv. Dann ging es mir besser und ich hatte seitdem keine Depressionen mehr. Durch das Schreiben an diesem Buch war ich dann in der Lage, mich in diesen mentalen Raum zurückzuversetzen und wieder an diese Art der Wahrnehmung der Welt zu gelangen.

ZEIT ONLINE: Hat das auch mit New Yorks jüngstem Trauma zu tun?

Cole: Ich denke, dass über die Melancholie des Post-9/11-New York noch niemand geschrieben hat. Wir haben die Fakten, die Action-Storys, die Filme. Aber für mich als New Yorker, der damals dort gelebt hat und zehn Jahre später dort gelebt hat, war New York ein grundsätzlich melancholischer Raum. Weil man sich beispielsweise fragt, was es bedeutete, wenn wir hier heute in Berlin sitzen und plötzlich hörten, dass am Hauptbahnhof 3.000 Leute gestorben sind. Das ließe keinen kalt, der in Berlin lebt. Wie, 3.000 Menschen, in derselben Stadt, nur wenige Kilometer entfernt?! Ich habe darum gerungen, eine Sprache dafür zu finden. Am Ende habe ich herausgefunden, dass man darüber in einer sehr indirekten Weise sprechen muss. Mann muss einen Raum schaffen, in dem man bestimmte Dinge denken kann. Daher die Melancholie. (© dpa, die zeit)